Es passiert in den USA, in Brasilien, in vielen Ländern - und nun auch in Deutschland. Wir werden gespalten – und irgendwann erkennen wir hoffentlich, dass uns Schwarz/Weiß-Malen nicht weiterhilft. Wann kommt die Rückkehr der Zwischentöne?
Von Steve Volke
Die Beurteilung von Corona hat es wieder einmal zutage gefördert, wie wir Menschen sind. Wir lieben keine komplizierten Dinge! Wir wollen keine ausgewogenen Diskussionen! Wir wollen klare Antworten, selbst in Situationen, in denen nichts mehr klar ist. In Krisen zeigt sich unser wahres „Ich“, in Krisen können wir uns nicht mehr verstellen, sondern zeigen unseren wahren Charakter. Das ist vielleicht gar nicht so schlecht, denn in manchen Fällen wird uns schocken, was uns begegnet. Auf der Straße und in uns selbst!
Sind die einfachen Antworten die besseren?
Unsere Welt bewegt sich leider nicht nur zwischen zwei Polen, sondern neben Nord- und Süd-Pol greift eine ganz andere Polarisierung immer mehr um sich: Konservativ oder liberal (was ist eigentlich konservativ und was liberal – und wer legt das fest?), religiös oder nicht (aber welche Religion und welche nicht?), dafür oder dagegen (aber wofür und wogegen?).
Einmal mehr zeigt sich: Unser Leben spielt sich überwiegend innerhalb von Klischees ab. Aber die Corona-Pandemie hat deutlich werden lassen, dass einfache Antworten auf komplizierte Probleme nichts bewirken, außer: Spaltungen. Das Bombardement tausender Meldungen und Falschmeldungen, die durch die Sozialen Medien ungefiltert und alle irgendwie gleichwertig auf unser Denken einstürmen, lässt uns oft ratlos zurück. Nur eins ist klar: die Welt ist aus dem Gleichgewicht gekommen.
Was mich am meisten bei diesen Beobachtungen schockt, ist die Vehemenz und Leidenschaft, die manche Menschen entwickeln, um ihrem Standpunkt Gehör zu verschaffen. Da ist jedes Argument (ob sinnvoll oder nicht, ob wahr oder gelogen) gerade recht – und einige Christen schrecken auch nicht zurück, sich passende Bibelverse zurecht zu legen, um ihren – teilweise sogar absolut abstrusen – Gedanken mehr Gehör zu verschaffen.
Verschiedene Standpunkte vereinen
Dabei sind es die Zwischentöne, die Grauzonen, die vielleicht sogar von Wolken getrübten Bereiche, die uns zu einem klaren Bild führen. Zwischentöne sind von unschätzbarem Wert! Sie sind unentbehrlich, wollen wir in Krisenzeiten die Welt – und vor allem einander und uns selbst besser verstehen.
Zum Beispiel kann ich grundsätzlich konservativ und in vielen Punkten sehr liberal sein. Ich kann mich für Rechte von Minderheiten einsetzen und trotzdem nicht alles gut finden, was sie vertreten. Ich akzeptiere Autoritäten und habe ein klares Ja zum Rechtsstaat – und trotzdem lehne ich Prügel von Polizisten ab.
Ich möchte Freunde haben, die nicht an Gott glauben und sich als Atheisten bezeichnen, und trotzdem meinen Glauben standfest vertreten können. Ich möchte grundsätzlich dafür sein dürfen, dass wir Flüchtlingen helfen, und es beschämend finden, wie die EU mit der Flüchtlingsfrage umgeht – und trotzdem mich dafür einsetzen, dass es gesetzliche Regelung für Einwanderung gibt.
Ich möchte sagen können, dass ich Gott liebe und Jesus nachfolge und mich trotzdem nicht als religiös bezeichnen lassen - weil ich von Religion grundsätzlich nichts halte.
Versöhnen statt Spalten
Du merkst, worauf ich hinauswill. Keine einfachen Antworten mehr! Kein Schwarz-/Weiß-Malen. Keine arrogante Verteidigung des eigenen Standpunktes, als wäre er die einzige Art, die Welt richtig zu sehen.
Kein Schaum vor dem Mund, kein Hass und auch keine Verallgemeinerungen und Schuldzuweisungen mehr!
„Versöhnen statt Spalten“, dieser Leitspruch des ehemaligen Bundespräsidenten und Christen Johannes Rau, sollte gerade für Christen eine ganz neue Bedeutung bekommen. Klingt einfach, ist aber sehr kompliziert zu leben.
Was bewirkt das? Wer einem anderen die Hand ausstreckt, kann keine Faust machen. (Okay, die Checker-Generation schon …). Wer Zwischentöne zulässt, stellt sich damit auf den Standpunkt der Barmherzigkeit. Barmherzigkeit mit dem anderen (ich will hören, was er sagt) und Barmherzigkeit mit sich selbst (es könnte sein, dass ich mich selbst ja auch bewegen oder sogar ändern muss).
Wer so lebt, verneint damit nicht, dass es im Leben Wahrheit gibt, richtig und falsch. Aber er gibt zu, dass es nicht einfach ist, die Wahrheiten unseres Lebens zu erkennen.
Und ganz nebenbei: Mit Zwischentönen lebt es sich einfach netter, freundlicher und liebevoller. Wenn ich die Bibel richtig verstehe, dann ist es das, was Jesus als höchstes Gebot genannt hat: „Liebe Gott, und deinen Nächsten wie dich selbst!“. Aber das wäre jetzt noch ein umfangreiches, anderes Thema.